Prolog

Die Glocken von Rungholt

von Stefan Osterhoff

Hoch und hell stand die Sonne über der Nordseeinsel Pellworm. Weithin war der rot-weiße Leuchtturm zu sehen, so dass es den Teilnehmern der Wattwanderung ein Leichtes war, die Badestelle „Leuchtturm“ am Süderkoogweg zu finden. Die Nordseeluft strich frisch über den Deich, die Wellen tanzten im glitzernden Licht des Vormittags und der Geruch von Salz und Seetang lag in der Luft dieses warmen Sommertages. Die großen Ferien hatten gerade erst begonnen und so strömten die ersten Touristen nach Pellworm, um die sonst so verschlafene Insel aus ihrem langen Winterschlaf zu reißen.

»Los, wir kommen zu spät!«, rief Lene, die die Treppe den Deich hinauf bereits leichtfüßig nach oben gehüpft war. Gestern war sie mit ihrer Familie, zu der ihre Mutter Anna, Papa Dirk, ihr Bruder Bastian und sie selbst gehörte, auf Pellworm angekommen. An die lange Autofahrt von Düsseldorf hierher konnte sie sich kaum erinnern, wohl aber an die Überfahrt mit der Fähre. Dicht an dicht hatten die Autos auf der Fähre gestanden, die vom Festland Nordstrand auf die Insel übersetzte. Am Abend hatten sie ihr kleines Ferienhaus ganz in der Nähe des alten Hafens von Pellworm bezogen und nachts, als Lene in ihrem Bett gelegen hatte, hatte sie in der Ferne das Rauschen der Wellen gehört. Eigentlich hatte sie ganz gut geschlafen, wäre da nicht dieses seltsame Geräusch gewesen, dass sie kurz nach Mitternacht aus dem Schlaf geweckt hatte. Es klang ein wenig wie Kirchenglocken, doch welche Kirchenglocken läuteten schon mitten in der Nacht? Außerdem hatte Lene in der Nähe ihres Ferienhauses gar keine Kirche gesehen. Ob sie das nur geträumt hatte? Ohne lange darüber nachzudenken, war sie schließlich wieder eingeschlafen.
Gleich nach dem Frühstück brach die Familie zur Wattwanderung auf.

»Wattwanderungen kann man nur bei Ebbe machen, wenn sich das Meer zurückzieht und man muss schauen, dass man das Watt rechtzeitig wieder verlässt, sonst holt einen die Flut«, hatte Dirk, ihr Vater, ihr auf dem Weg zum Treffpunkt erklärt. Lene fand das ziemlich unheimlich. Was bedeutete es, wenn einen die Flut holte? Und wohin brachte sie einen?
»Mach dir keine Sorgen, wir gehen mit einem erfahrenen Wattführer und uns wird nichts passieren. Auf einer Wattwanderung kann man die tollsten Sachen erleben und vieles entdecken. Wir wandern bis zur Hallig Süderoog. Dort wohnen nur drei Leute und freuen sich über Besuch. Bevor die Flut kommt, sind wir wieder zurück«, erinnerte sich Lene an die Worte ihres Vaters, während sie ungeduldig auf dem Deichkamm stand und wartete, bis der Rest ihrer Familie sie eingeholt hatte.
»Wir kommen zu spät!«, rief Lene noch einmal. Unten an der Badestelle stand bereits eine Gruppe von Leuten mit hochgekrempelten Hosen zusammen.
»Immer mit der Ruhe, Lene«, lachte ihre Mutter. »Erstens sind wir hier im Urlaub und zweitens gehen die Uhren auf einer Insel ohnehin viel langsamer. Wir werden schon nichts verpassen.«
Lene war sich da nicht so sicher und sprang mit flinken Schritten den Deich hinunter zur Badestelle. Dort bildeten die anderen Teilnehmer einen Kreis um einen jungen Mann mit Bart, der seine Hosenbeine ebenfalls hochgekrempelt hatte.
»Ich bin Mirko und ich führe euch heute durch das Watt«, stellte er sich gerade vor. »Ich komme aus Pellworm und arbeite für die Schutzstation Wattenmeer.«
»Das Wattenmeer ist ein Naturschutzgebiet«, fuhr er fort. »Und nicht nur das: Es handelt sich sogar um ein Weltnaturerbe. Das Wattenmeer, das in großen Teilen noch so ist, wie es die Natur erschaffen hat, ist das vogelreichste Gebiet in ganz Europa. Es sind so viele Vogelarten, dass sogar ich sie mir nicht alle merken kann.« Sein Blick wanderte über die vielen Kinder unter den Teilnehmern.
»Wisst ihr vielleicht, welche Vögel im Wattenmeer leben?«
Sofort schnellte Bastians Finger in die Höhe.
»Die Sturmmöwe, die Pfeifente, die Eiderente, der Kormoran und der Halligstorch«, rief er. Seine Mutter hatte Bastian vor der Reise ein Buch über die Nordsee mit vielen bunten Bildern der Tierwelt geschenkt, dass er sich seither unzählige Male angeschaut hatte.
»Sehr gut«, sagte der Mirko und lächelte anerkennend.
»Unser Ziel ist heute die Hallig Süderoog. Wer weiß denn, was eine Hallig ist?«
Bastian presste die Lippen aufeinander. Darüber stand zwar auch so einiges in seinem Buch, doch er war sich nicht ganz sicher.
Der Wattführer wies mit dem Kopf den Deich hinauf, über den sie gerade zur Badestelle gelangt waren.
»Ein Deich schützt Inseln wie Pellworm vor Sturmfluten. Er wird von Menschen aufgeschüttet und muss ständig gewartet und gepflegt werden, sonst bricht er ein und die Insel ist nicht mehr geschützt. Das macht viel Arbeit. Nicht auf jeder Insel lohnt sich das. Eine Hallig ist eine kleine Insel im Wattenmeer, die keinen Deich hat und bei Sturmfluten überflutetet werden kann. Rund um Pellworm gibt es zehn Halligen, von denen sieben bewohnt sind. Auf so einer Hallig kann es manchmal ganz schön einsam werden, aber es ist auch sehr spannend, denn man kann die Tiere beobachten.«
Er streckte den Arm aus und deutete nach Westen.
»Wenn ihr die Augen ein bisschen zusammenkneift, dann seht ihr dort hinten vielleicht bereits die Hallig Süderoog. Dort wohnen seit ein paar Jahren Nele und Holger mit ihrer Tochter Fenja. Sie werden wir heute besuchen. Aber vorher werde ich euch noch erzählen, was es bei einer Wattwanderung alles zu beachten gibt.«
Lene hörte nicht mehr richtig zu. Sie konnte es kaum erwarten, dass es endlich losging. Ob sie viele Muscheln finden würde? Vielleicht sogar eine besonders große, schöne, die sie ihrer Freundin Mia mitbringen konnte?

Schließlich war es soweit. Mirko ging voran, und hinter ihm die Teilnehmer. Wie immer trödelten Lenes Vater und Mutter ein wenig und gingen als Letztes in der Reihe.
»Ach, das ist herrlich«, sagte Mama Anna gerade. »Die Luft, das Licht und die wunderbare Natur. Hier könnte ich leben.«
»Bist du dir da sicher? Der Handyempfang ist nämlich ziemlich schlecht«, neckte Papa Dirk seine Frau.
Sie stieß ihn in die Seiten.
»Ja, so ein wenig Entschleunigung täte uns allen wohl gut«, fügte sie nachdenklich hinzu.
Der nasse Sand fühlte sich weich und kitzelig unter den Füßen an. Lene beobachtete, wie ihre Zehen bei jedem Schritt im Sand versanken und vom kühlen Nordseewasser umspült wurden. Die Sonne stand nun hoch am Himmel und Lene war froh, dass sie ihren Sonnenhut trug.
»Was sind das denn für Haufen?«, fragte Bastian gerade.
Mirko drehte sich zu ihm um.
»Das sind die Wattwürmer, die sich in den Sand graben und dabei diese Häufchen hinterlassen. Du wirst davon noch viele auf unserem Weg sehen.«
Lene betrachtete die Spuren, die ihre Füße im Sand hinterließen und die erst nach und nach wieder verschwanden. Der Anblick faszinierte sie so sehr, dass sie die Krabbe, die seitwärts ihren Weg kreuzte, erst sah, als sie nur noch einen halben Meter von ihr entfernt war. Ihre Scheren sahen ziemlich eindrucksvoll aus.
»Mama«, rief Lene ängstlich und hörte ihren Vater lachen.
»Keine Sorge, die tun dir nichts. Geh einfach weiter.«
Rasch huschte Lene an dem Tier vorbei und konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieses sie aus seinen kleinen Augen beobachtete.
Über ihnen kreisten einige Möwen und stießen mit lautem Kreischen vom Himmel herab, das Watt erstreckte sich so weit das Auge schauen konnte.
»Herrlich«, machte Lenes Vater. »Nur Watt, Himmel und Meer.« Er seufzte tief, so wie er es immer tat, wenn ihm etwas wirklich gut gefiel.
Lene hielt den Kopf gesenkt, um Ausschau nach besonders schönen Muscheln halten zu können, die sie mit nach Hause bringen wollte. Plötzlich sah sie etwas im Sand. Es schimmerte grün. Lene blieb stehen und betrachtete den Gegenstand. Es war kein glattgeschliffener Stein, sondern hatte klare Kanten. Sie bückte sich und zog es aus dem Sand. Verwundert sah sie es an. Es sah aus wie eine Scherbe, außen mit einer lackartigen Substanz bestrichen, innen rau wie Gips.
»Was ist denn das?«, fragte sie und hielt es in die Sonne.
Ihr Vater, der bereits einige Schritte voraus gegangen war, drehte um und kam zu ihr zurück.
»Zeig mal«, sagte er neugierig.
Lene hielt ihm die Scherbe hin und er unterzog sie einer eingehenden Musterung.
»Das sieht aus wie ein Stück Porzellan«, sagte er schließlich.
»Das ist eine Kachel«, stellte Mirko fest, der zu ihnen gestoßen war. Er nahm sie in die Hand und hielt sie nach oben, so dass alles sie sehen konnten.
»Dabei handelt es sich um ein ganz besonderes Stück«, erklärte er.
»Stammt sie von einem Ofen?«, fragte einer der anderen Teilnehmer.
»Gut möglich. Vielleicht ist es aber auch eine der Wandkachel, mit denen die Häuser hier früher ihre Zimmer verkleideten. Die Seeleute brachten sie aus den Niederlanden mit.«
Lenes Vater blickte sich um.

»Aber die Insel ist schon ziemlich weit entfernt«, stellte er fest.
»Das spielt keine Rolle. Vielleicht stammt sie gar nicht von Pellworm. Hier im Watt finden wir die unglaublichsten Dinge. Manche sind uralt, andere kommen von weit her. Es ist wie eine Schatzkiste. Wenn man ganz genau hinsieht, entdeckt man manchmal sogar etwas von Rungholt«, führte Mirko aus.
»Rungholt? Was ist das denn?«, fragte Lenes Mutter.
»Rungholt ist eine Insel, die weiter südöstlich lag, direkt zwischen Nordstrand und Pellworm. Habt ihr noch nie von Rungholt gehört?«
Ein freundlicher älterer Herr mit vollem, weißen Bart warf sich in die Brust und rief: »Heute bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor 600 Jahren, Trutz blanke Hans!« Der Mann machte einen übertrieben ernsten Gesichtsausdruck, doch als Lene ihn ansah, zwinkerte er ihr zu.
»Liliencron, der Dichter. Das ist wohl das berühmteste Gedicht über Rungholt. Er schrieb es vor fast 140 Jahren, als er unsere Insel besuchte.«, erklärte Mirko.
»Um Rungholt ranken sich viele Mythen und Legenden. Es ist fast ein wenig wie Atlantis.«
Lene kniff die Augen zusammen.
»Du meinst die Stadt unter Wasser? Mit Meerjungfrauen und Delfinen?«
Bastian rollte mit den Augen.
»Du und deine dämlichen Zeichentrickfilme«, zischte er. Lene spürte, wie sie vor Wut rot anlief. Einen großen Bruder zu haben, konnte manchmal ziemlich anstrengend sein, vor allem, wenn er wie Basti immer alles besser wusste.
»Vor 700 Jahren war Rungholt eine reiche Stadt. Die Menschen dort handelten mit Salz, das sie aus dem Torfboden gewannen. Es machte sie sehr reich. Sie trieben Handel mit Menschen von weit her, bis nach Italien und das Schwarze Meer. Den Menschen ging es gut. Dann aber kam eine große Flut und sie alle starben. Die Insel versank im Meer und nur hin und wieder finden wir im Watt Dinge, die das Wasser wieder nach oben trägt«, fasste Mirko zusammen.
»Sie starben?«,echote Lene und klammerte sich ein wenig an ihre Mutter, die neben ihr stand.
Mirko nickte. »Eine solche Sturmflut nennt man Mandränke und die Sturmflut von 1362 ging als große Mandränke oder Marcellusflut, nach dem Heiligen, der am Tag des Ereignisses Heiligentag hatte. Niemand überlebte sie.«

Auf einmal fror Lene trotz der warmen Sonne. Das Wasser, das ihre Füße umspülte, erschien ihr auf einmal eiskalt. Sie fröstelte und ihre Mutter legte den Arm um sie.
»Es gibt viele Legenden, die sich um Rungholt ranken. Viele berühmte Dichter und sogar Forscher haben sich mit der Stadt beschäftigt. 300 Jahre später gab es eine zweite Flut, bei der ebenfalls viele Menschen starben. Das Meer ist unberechenbar und früher wussten die Menschen noch nicht so viel über Deichbau wie heute. Erst danach wurden Gesetze erlassen, die vorschrieben, dass die Bewohner einer Insel wie Pellworm sich um den Deich kümmern müssen.«
»Und diese Kachel könnte aus Rungholt stammen?«, staunte Lene.
Mirko lachte. »Nein, so alt ist sie nicht. Und Rungholt lag auch weiter im Osten. Vermutlich stammt sie aus einem der alten Häuser hier am Deich. Bei der Renovierung wurden die Kacheln häufig abgeschlagen und hier im Wasser versenkt. Möchtest du sie als Andenken behalten?«
Er hielt sie Lene hin, die sie andächtig in Empfang nahm und in ihrer Hand barg. Die Scherbe kam ihr vor wie ein Schatz. Zwar hatte Mirko gerade erklärt, dass sie nicht von der untergegangenen Insel stammte, doch Lene gefiel der Gedanke, etwas sehr Altes und Kostbares gefunden zu haben.
»Was sind das für Legenden?«, wollte Bastian wissen, als sie ihren Weg zur Hallig Süderoog fortsetzten.
Mirko strich ihm über den Kopf.
»Du bist aber besonders neugierig, oder? Das gefällt mir. Aus dir wird sicher einmal ein guter Forscher, denn Neugier ist die wichtigste Fähigkeit, um ein Forscher zu werden.«
Bastian grinste stolz.
»Im Laufe der Jahre haben die Menschen alle möglichen Geschichten erfunden. So berichten zum Beispiel die alten Kapitäne immer mal wieder, dass sie bei Vollmond die Glocken der alten Kirche von Rungholt hören können, wenn sie über jene Stelle fahren, an der die Insel vermutlich einst gestanden hat. Wieder andere sagen, dass jedes Jahr am Johannistag die Insel wieder auftaucht. Es heißt auch, die Insel sei untergegangen, weil die Menschen sich schlecht verhielten. Sie tranken und fluchten und achteten weder Gott noch die Natur. Angeblich war die große Flut eine Strafe für ihr Verhalten.«
Lene blieb stehen und legte sich die Hand über die Augen. Die vielen Pfützen im Watt reflektierten das Wasser und blendeten sie. Kam es ihr nur so vor, oder bewegte sich dort hinten etwas, eine schemenhafte Gestalt, die über das Watt wanderte? Sicher spielte ihr ihre Fantasie nur einen Streich.
»Die Insel, auf der Rungholt stand, hieß Südstrand. Sie lag nicht weit von hier entfernt. Die Forscher streiten sich um vieles, was über Rungholt berichtet wird, aber die Menschen auf der Insel haben ihre eigenen Geschichten dazu. Im Watt finden sich nicht nur Kacheln, sondern manchmal auch Knochen. Auf Rungholt und später auf den Resten von Alt-Nordstrand gab es mehrere Kirchen und auch Friedhöfe und es kommt immer wieder vor, dass wir auch Knochen hier bei unseren Wattwanderungen finden.«
Bastian sah Mirko mit großen Augen an.
»Du meinst Knochen von echten Menschen? Echten toten Menschen?«
Mirko nickte. »Echte tote Menschen, ja. Menschen, die schon lange tot sind.«
»Menschen, die die Flut sich geholt hat«, flüsterte Lene und auf einmal fühlte es sich an, als krieche die Kälte von ihren Füßen direkt in sie hinein. In ihrem Bauch war es schon ganz kalt.
»Du musst keine Angst haben«, erklärte ihre Mutter rasch und versuchte, sie in den Arm zu nehmen, doch Lene wollte sich nicht wie ein kleines Kind behandeln lassen.
»Ist schon gut«, sagte sie rasch und ging weiter. Bastian sollte bloß nicht denken, dass sie sich schnell fürchtete und sich über sie lustig machen.
Im Augenwinkel bemerkte sie wieder den Schatten. Sie fuhr herum und da stand sie. Es war ein Mädchen, etwa in ihrem Alter. Lene war sich sicher, dass sie sie zuvor am Treffpunkt nicht gesehen hatte und sie wäre ihr sicher aufgefallen. Etwas an dem Mädchen war seltsam, ohne, dass Lene genau bestimmen konnte, was es war. Sie trug das Haar zu zwei langen blonden Zöpfen und dazu ein aschgraues Kleid, das ihr bis zu den Knien ging und überhaupt nicht aussah wie eines der Kleider, die Lene gerne anzog. Das Merkwürdigste an ihr aber war ihr Gesicht. Blass war es, fast weiß, die Augen groß und von dunklen Höhlen umgeben. Sie starrte Lene an, ihr Blick bohrte sich förmlich in Lenes Augen.
Lene blieb stehen und starrte zurück. Das Mädchen öffnete den Mund, als wolle es etwas sagen, doch es war zu weit weg. Lene kniff die Augen fest zusammen, um besser sehen zu können und versuchte zu erraten, was das Mädchen ihr sagen wollte. Es dauerte eine Weile, bis sie es verstand, dann aber schien das kalte Gefühl geradewegs ihr Herz erreicht zu haben.
»Hilf mir«, sagte das Mädchen und es sah dabei so verzweifelt und traurig aus, dass Lene den Schmerz in ihrer eigenen Brust spüren konnte.
»Sieh mal, Mama, das Mädchen«, sagte sie zu ihrer Mutter, die einige Schritte neben ihr ging.
»Wo denn?«, fragte Lenes Mutter und sah sich suchend um.
»Was für ein Mädchen meinst du?«
»Na, das da. Das Mädchen, das zu uns herübersieht. Ich glaube, sie braucht unsere Hilfe.«
»Aber Lene, das ist kein Mädchen. Wovon sprichst du denn? Los, komm, lass uns schneller gehen und zu den anderen aufschließen.«
Tatsächlich war zwischen ihnen und dem Rest der Gruppe ein beträchtlicher Abstand entstanden.
Lene richtete ihren Blick wieder auf das Mädchen. Sie blinzelte sogar, um sicher sein zu können, dass sie sich das Mädchen nicht nur einbildete, doch da war es noch immer. Seine dünnen Beine ragten aus dem Sand, ganz still stand es, während der Wind an seinen Haaren und an seinem Kleid zerrte.
»Hilf mir!«
Jetzt glaubte Lene sogar, ihre Stimme hören zu können, doch ihre Mutter war bereits weitergegangen. Gerade kam Bastian an ihr vorbei.
»Jetzt spinnst du wohl völlig«, sagte er. »Da ist kein Mädchen.«
Lene spürte, wie Wut in ihr emporstieg. Sie konnte das Mädchen ganz deutlich sehen, dort im Watt – vor Überraschung klappte sie den Mund auf. Das Mädchen war verschwunden. Als habe das Watt sie verschluckt. Lene sah sich nach allen Richtungen um, doch sie konnte das unbekannte Mädchen nirgendwo entdecken. Hatte sie sie sich also doch nur eingebildet? Wer konnte das Mädchen gewesen sein?
»Lene, na los, trödel nicht herum!«, hörte sie ihren Vater rufen. »Wir müssen rechtzeitig auf Süderoog sein, damit wir vor der Flut wieder zurück sind.«
Lene riss sich los und eilte, so schnell sie auf dem weichen Untergrund konnte, ihrer Familie hinterher. Die gefundene Kachel lag kühl und glatt in ihrer Handfläche. Fest schloss Lene die Finger um sie. Das Mädchen im Watt hatte sie bald vergessen, ebenso wie das Läuten der Kirchenglocken mitten in der Nacht.